5. Aufstieg & Untergang: 99 Jahre Route 66
„Go West!“ – dieser Ruf symbolisiert den Aufstieg der Route 66. In den 1930er-Jahren war sie eine lebenswichtige Route für Migranten während der Dust Bowl, aber bereits Ende der 1950er-Jahre begann ihr Niedergang mit dem Bau der neuen Interstate Highways. Die Entvölkerung entlang der Straße, wie sie in Psycho durch das ikonische Bates Motel angedeutet wird, konnte der „Guardian Angel of Route 66“ in den 80er-Jahren aufhalten. Die „Mother Road“, oft auch zynisch als „Bloody 6“ bezeichnet, hat unzählige Reisende, Abenteurer und Roadtrip-Fans inspiriert und feiert dieses Jahr ihr 99-jähriges Jubiläum. In der 18-teiligen Serie von Bettina Bormann und Michael Krüger erfahren Sie mehr über den ikonischen US-Roadtrip.
GET YOUR KICKS ON BLOODY 6
Keine andere Straße wurde so oft besungen wie dieser legendäre Highway. Der Song „(Get Your Kicks On) Route 66“ von Bobby Troup aus dem Jahr 1946 wurde von Künstlern wie Nat King Cole, den Rolling Stones und Depeche Mode unzählige Male gecovert und gilt als der ultimative Soundtrack der Route. Doch das Befahren der Strecke nach Kalifornien war nicht ungefährlich – ihr gefährlicher Ruf bescherte ihr den Beinamen „Bloody 6“. Die Route von Chicago nach Los Angeles führte durch verkehrsreiche Städte, überquerte Bahngleise und war gespickt mit schwer einsehbaren Kurven sowie gefährlichem Querverkehr.
DIE ROUTE IST NICHT IMMER LEICHT ZU FINDEN
Die Suche nach den braunen „Historic Route 66“-Schildern gestaltet sich nicht immer einfach. Der fast 100 Jahre alte Highway ist vielerorts marode, von modernen Kreuzungen unterbrochen oder endet abrupt. Oft verläuft er parallel zur Interstate I-40 oder wurde von dieser ersetzt. Leider verfällt die einst glanzvolle Straße zunehmend, da sie keinen offiziellen Denkmalschutzstatus besitzt.
CROSS COUNTRY CHASE: HISTORISCHE MOTORRÄDER AUF DER ROUTE 66
„Pop-Pop, Pop-Pop“… An einer alten Tankstelle ist der unverwechselbare, tiefe Klang mehrerer Harleys nicht zu überhören. William Gallo parkt seine HD „WL“ von 1946 mit Starrahmen und Tankschaltung – scherzhaft „Suicide Clutch“ genannt – an der Zapfsäule. Er nimmt an der Cross Country Chase teil und fährt mit 120 weiteren Bikern auf historischen Motorrädern die legendäre Strecke, die sonst meist nur als Museumsstücke bestaunt werden.
„Bei der Chase sind nur Motorräder von 1930 bis 1960 erlaubt“, erklärt der Architekt aus Lake Grove, New York. „Die meisten stellen ihre Oldtimer einfach nur aus – wir fahren sie. Klar, nicht alle kommen an, aber so ist das Leben“, lacht er und kickt seine Harley wieder an. „Willst du möglichst wenig von den USA sehen, dann fahr die langweiligen Interstates. Habt ihr Deutschen die nicht erfunden?“, ruft er noch, bevor er losfährt.
DIE DEUTSCHEN AUTOBAHNEN WAREN DAS VORBILD DER INTERSTATES
Tatsächlich hat er nicht Unrecht: Die kurvenreiche, oft einspurige und chronisch überlastete Route 66 wurde ab 1956 Abschnitt für Abschnitt durch moderne Interstate Highways ersetzt, die sich an deutschen Autobahnen orientierten. Ursprünglich war die Route 66 eine Verbindung aus staubigen Indianerpfaden, den Planwagen-Trails der Siedler und den Bahngleisen. Sie entstand 1926 und wurde zum Hauptweg für verarmte Farmer aus Oklahoma und Texas, die während der Dust Bowl auf der Suche nach Arbeit nach Kalifornien strömten – ein Schicksal, das John Steinbeck in Früchte des Zorns literarisch verewigte.
DIE HIPPIE-ROUTE DER 60-ER NACH KALIFORNIEN
Nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckten ehemalige GIs die Straße für sich und fuhren mit ihren Familien in den Westen. In den 1960er-Jahren wurde die Route 66 zur Hippie-Route, die tausende Aussteiger mit VW-Bussen ins „Marihuana-Paradies“ Kalifornien führte. Im Film Easy Rider verläuft die Strecke von Los Angeles bis nach Amarillo auf dem berühmten Highway, bevor sie über Austin nach New Orleans führt.
DIE INTERSTATES WAREN DER UNTERGANG DER ROUTE 66
Mit dem Bau der Interstates I-40, I-55, I-44, I-10 und I-15 begann der wirtschaftliche Niedergang für die entlang der Route lebenden Menschen. Wegweisende Schilder wurden entfernt, die berühmten Muffler Men und Werbeschilder entsorgt. Unzählige Cafés, Restaurants, Hotels und Tankstellen verloren ihre Existenzgrundlage, und ganze Orte verfielen zu Geisterstädten – viele davon können heute noch erkundet werden.
ANGEL DELGADILLO RETTETE DIE HISTORISCHE STRASSE
Nur dem Engagement von Angel Delgadillo ist es zu verdanken, dass die Route 66 nicht völlig in Vergessenheit geriet. Der 1927 geborene Friseur und Barbier gilt als einer der wichtigsten Aktivisten für die Erhaltung der Straße. Von den späten 1950er- bis in die 1980er-Jahre verfielen viele Orte entlang der Route, insbesondere nachdem die Interstate 40 sie ersetzte. Auch Delgadillos Heimatstadt Seligman drohte zur Geisterstadt zu werden.
GUARDIAN ANGEL OF ROUTE 66
Doch der „Guardian Angel of Route 66“ weigerte sich, den Niedergang zu akzeptieren. Er gründete die Historic Route 66 Association of Arizona, die erste Organisation, die sich für die Wiederbelebung der Strecke einsetzte. Sein Engagement führte dazu, dass Arizona als erster Bundesstaat Teile der Route 66 als Historic Route anerkannte – ein Modell, dem später andere Bundesstaaten folgten.
BELIEBTER STOP IN SELIGMAN
Delgadillos Barbershop in Seligman ist heute ein beliebtes Museum und Souvenirshop. Reisende aus aller Welt besuchen ihn, um die Geschichte der Route 66 zu erleben. Angel Delgadillo ist nur noch selten vor Ort, aber seine Kinder führen das Erbe weiter. Sogar die Macher des Pixar-Films Cars (2006) ließen sich von ihm inspirieren – die fiktive Stadt Radiator Springs basiert auf Orten und Figuren entlang der Route 66, und Delgadillo war eine der Hauptinspirationen für den Film.
PSYCHO, BATES MOTEL UND DIE ROUTE 66
In Alfred Hitchcocks Psycho (1960) sowie der Serie Bates Motel (2013–2017) wird die Route 66 zwar nicht explizit erwähnt, doch ihre Atmosphäre ist unübersehbar. Die düsteren, abgelegenen Motels entlang der historischen Straße erinnern stark an das ikonische Bates Motel. Genau wie in Psycho waren Reisende auf langen Strecken oft die Hauptgäste solcher Unterkünfte – mitunter mit verhängnisvollen Folgen, wie Marion Crane im Film eindrucksvoll erlebt. Der Verfall vieler alter Gasthäuser und Raststätten entlang der Route 66 verstärkt diese unheimliche Ästhetik bis heute.
99 JAHRE ROUTE 66: 18-TEILIGE SERIE ÜBER DIE MOTHER ROAD
Keine Straße verkörpert den Pioniergeist Amerikas so eindrucksvoll wie die legendäre Route 66, die 2026 ihr 100-jähriges Jubiläum feiert. Eine Tour auf der „Mother Road“ gleicht einer Zeitreise durch die Geschichte der USA – vorbei an skurrilen Motels, Art-Deco-Diners, leuchtenden Neonschildern und atemberaubenden Naturwundern. In der Serie nehmen Bettina Bormann und Michael Krüger die Leser mit auf eine Reise entlang der „Main Street of America“ und erzählen vom Mythos dieser einzigartigen Straße.
00. START DER 18-TEILIGEN SERIE: 99 JAHRE ROUTE 66
01. CHICAGO: AL BUNDY, BLUES BROTHERS, THE BEAN & SKYDECK
02. ILLINOIS: VOM GEMINI GIANT ZUM LINCOLN-HAUS
03. MISSOURI I: ST. LOUIS, THE LOOP & GATEWAY ARCH
04. MISSOURI II: WAGON WHEELS & ROCKING CHAIR
05. AUFSTIEG & UNTERGANG DER „MOTHER ROAD“
06. KANSAS: 21 KILOMETER & CARS ON THE ROUTE
07. OKLAHOMA: SPACE COWBOY, GOLDEN DRILLER & ARCADIA POPS
08. TEXAS: CADILLAC RANCH, MONSTER-STEAKS & MIDPOINT
09. NEW MEXIKO I: ALBUQUERQUE, BREAKING BAD & BETTER CALL SAUL
10. NEW MEXIKO II: LOS ALAMOS, OPPENHEIMER & HEISENBERG
11. NEW MEXIKO III: 66 DINER, BLUE SWALLOW MOTEL & EL RANCHO
12. ARIZONA I: FORREST GUMP, PETRIFIED FOREST & METEOR CRATER
13. ARIZONA II: FLAGSTAFF & GRAND CANYON
14. ARIZONA III: SELIGMAN, CAVERN-HOTEL & RAUBKATZEN
15. LAS VEGAS: ABSEITS DER „MOTHER ROAD“ IN SIN CITY
16. KALIFORNIEN I: VON DER MOJAVE WÜSTE BIS ZUR PAZIFIK-KÜSTE