Kolumne

Ego-Shooter im Selfiewahn

Arm strecken, lächeln, klick – fertig ist das UW-Selfie am Strand mit gestrandetem Wal für die Social-Websites: Die Jagd nach perfekten Selbstporträts mit Vollpfosten-Antennen nimmt immer groteskere Züge an. 2023 stürzte ein Tourist auf Bali beim Selfie von der Klippe in den Tod – jedes Jahr sterben Ego-Shooter im waghalsigen Selfiewahn. Muss man wirklich ständig und überall „abliefern“?

Women pouting for selfie on the beach

MIT VOLLPFOSTEN-STICKS DEN RÜCKEN ZEIGEN

„Social Media ist, wenn alle von dir wegschauen, um dich zu teilen“, twitterte Martin Oswald, Leiter von SRF-Online. Vielleicht sollte man noch ergänzen: Wenn alle aufs Smarphone starren, um das nicht richtig erlebte Erlebnis hinterher zu posten und die Likes unbekannter „Friends“ zu zählen. Eine Delfinschule schwimmt auf einen Taucher zu. Und der hat nichts besseres zu tun, als seinen Actioncam-Stab zu zücken, sich umzudrehen, um ein Selfie-Filmchen zu drehen. „Der Rücken seines Gegenübers als neue Form der Anerkennung“, beschreibt der Online-Branchendienst „Meedia“ dieses Phänomen. Den Meeresbewohnern kann es egal sein, solange sie nicht genervt werden.



KRAKEN JAGEN, ROCHEN ÄRGERN – NICHTS KANN SIE STOPPEN!

Fotos und Videos auf Social Websites sind nur relevant, wenn man es schafft, Teil der Szenerie zu werden. Fischfilme und Rifffotos überfluten Facebook, Instagram, Pinterest und Youtube als Massenware. Nur in Kombination mit dem Selbstporträt wird das beliebige Motiv individuell. Dafür nehmen viele Taucher den Regler aus dem Mund oder setzen die Maske ab, damit man mehr vom Gesicht erkennt, und nehmen lächerliche Posen neben den marinen Bewohnern ein.

Der Selbstdarstellungswahn kennt keine Grenzen: „Ich neben dem dicken Zackenbarsch“ oder „Ich lachend neben der Muränenhöhle“. Wenn man sich einige Youtube-Videos anschaut, bekommt man das Gefühl, dass Anglerfische den ganzen Tag auf ihren Brust- und Bauchflossen über den Sandgrund torkeln und Kraken nur mit Tintenwolke durchs Riff schwimmen. Voraussetzung für solche Fotos und Videos ist natürlich, dass man die Meerestiere so lange nervt, bis sie die Flucht ergreifen. Kraken versuchen sich bei Störungen erst einmal zu verstecken. Falls das nicht klappt, versuchen sie zu fliehen. Erst wenn sie festgehalten werden, versprühen sie als letzte Geheimwaffe ihre „Tinte“. Auch hausrifftreue Napoleon-Lippfische, die regelmäßig mit Eiern versorgt werden und jeglichen Furcht-Reflex vor Tauchern verloren haben, sind ein beliebtes Selfie-Motiv.

Aber Fisch-Selfies können auch gefährlich werden. 

HAIE BEISSEN GERN IN SELFIE-STICKS!

Einige Stachelrochen mögen es gar nicht, wenn man ihnen zu nah auf den Leib rückt und schlagen schmerzhaft zu. Auch Haie sollte man nicht provozieren. Ein Sharkfeeder von Stuart Cove auf den Bahamas warnt beim Briefing davor, den Teleskopstab der Actionscams für Selfies zu nutzen. „Warum?“, fragt ein Taucher. Der Guide hebt den zum Verwechseln ähnlich aussehenden Metallspieß in die Höhe, mit dem er die Tiere mit Köderfisch füttert und frotzelt: „Noch Fragen?“ Gelächter. „Haie haben sehr scharfe Zähne! Haltet eure Arme eng am Körper“. Eine klare Ansage. Aber kaum hingehockt und von den ersten Haien umkreist, hebt bereits der erste Taucher seinen Teleskopstab für Selfies.

Einige UW-Fotografen haben mittlerweile Doppel-Halterungen für Action-Cams auf dem UW-Gehäuse: Eine Kamera filmt nach vorne, die andere filmt den Fotografen, um den eindrucksvollen Blickwinkel auf sich selbst nicht zu verpassen. 

GENERATION NARZISSMUS AUF INSTAGRAM

Psychiater Bert Theodor te Wildt von der Bochumer LWL-Klinik kommentierte im „Hamburger Abendblatt“: „Mancher wird süchtig nach Aufmerksamkeit und der ständigen Bestätigung seiner Person. Wenn man online keine Aufmerksamkeit bekommt, erlebt man sich selbst nicht als positiv. Likes und Follower werden zum digitalen Suchtmittel.“

„Generation Narzissmus“? Letztlich sollte sich jeder fragen, ob die Dauerjagd nach digitalen Trophäen wichtiger ist als das reale Erlebnis. Und wenn alle nach dem Tag am Meer nicht mehr locker beim Cocktail über das gemeinsame Erlebnis plaudern, sondern lieber stumm auf ihre Smartphones starren, um Selfies zu posten und Likes zu zählen, nimmt das ganze bedenkliche Züge an.

Ich hasse diese „Deppen-Zepter“! Selfie-Sticks finde ich genauso überflüssig wie Ego-Shoots maskierter Taucher.


Underwater view of snorkeling friends

Michael Krüger

Ist in der Medien- und Musikszene als Journalist, Texter und Kreativer aktiv. Nach Studium, Akademie & Volontariat fest oder frei in Redaktionen und Agenturen sowie als Reisejournalist und Artworker tätig. Für seine Reisereportagen wurde er mit mehreren Journalistenpreisen ausgezeichnet.